Klaus Schüller, 54 Jahre alt, stand in Meiningen und war nicht mehr
hauptberuflicher Gewerkschafter beim DGB, ein Mann, der selbst im Anzug noch
nach Werkstatt, Spänen und Brotzeit riecht. Er war nicht mehr linker
Sozialdemokrat aus dem Arbeitnehmerflügel. Er war ein Vater am Rande des
Nervenzusammenbruchs. Sie war 28 Jahre alt. Sie wohnte in Würzburg in der
Augustinerstraße, 4. Stock. Er raste los. Ein Jahr zuvor erst hatte er
seinen Urlaub geopfert, um ihr die Wohnung zu renovieren: hellblau und
orange. Das waren ihre Lieblingsfarben. Es war doch eine schöne Wohnung.
Die Fenster standen offen. Er bemerkte es sofort,
als er auf den Hof einbog. Er stürmte die Treppen hoch. Ihre Wohnung war
klein, die Türen standen offen, vom Flur konnte man alle Zimmer einsehen.
Auch das Schlafzimmer. Dort lag sie. Im Bett, „eingekuschelt“, den Kopf auf
dem linken Arm. Er schläft auch so. Sie ist seine Tochter. „Gott sei Dank“,
hat er gedacht, sie schläft. „Anja“, rief er. Einen winzigen Moment lang war
er glücklich. Er ging hin, um sie zu wecken. Er streichelte ihr über den
Kopf, wie man das bei seinen Kindern ein Leben lang getan hat. Wenn er von
diesem Augenblick erzählt, beben seine massigen Lippen. Sie wollen den
nächsten Satz nicht heraus lassen, sie wollen sich weigern. „Da hab’ ich
gespürt, dass sie kalt war.“ Jetzt sah er die Infusion, die an einem Haken
in der Wand hing, den Schlauch, der zu ihrem Handrücken führte, die blauen
Pünktchen auf ihren Lippen.
„Ist das nicht eine merkwürdige Art mit dem Tod
seiner Tochter fertig zu werden“, fragt Klaus Schüller. Er hat seitdem
ständig Termine: Das Fernsehteam von Mona Lisa dreht bei ihm, der Stern war
da, nach Leipzig ist er gefahren zur Sendung „Ein Fall für Escher“. Die
Trauer? Sie darf jetzt nicht ihr schwarzes Tuch über ihn werfen. Er ist auf
der Flucht vor ihr. Er muss anklagen im Namen seiner Tochter. Er hat einen
schwarz umrandeten offenen Brief geschrieben „an alle Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter der Badenia-Bausparkasse in Karlsruhe und Deutschland“. In dem
Brief steht: „Wir werfen der Badenia, nach allem, was wir heute wissen, vor,
dass sie unsere Tochter Anja in den Tod getrieben hat.“ Anja Schüller lag in
Würzburg in ihrem Bett. Auf den Tisch hatte sie nicht nur den blauen
Abschiedsbrief gelegt, in dem stand, sie habe nicht mehr die Kraft zu
kämpfen, sondern auch einen Zwangsvollstreckungsbescheid der Badenia über 70
046,99 Euro. Der Bescheid wurde ihr vermutlich um den 7. September herum
zugestellt.
Am 12. September hat sie angerufen in Meiningen.
„Sie klang sehr fröhlich“, sagt Klaus Schüller. „Hast du Probleme Kind“, hat
er gefragt. „Ne, ne Papa“, habe sie geantwortet. Am 13. September meldete
sie sich noch einmal bei ihrer Mutter. Sie habe Himbeertorte gebacken und
sich einen Blumenstrauß gekauft, erzählte sie. „Die Torte gibt’s doch nur am
Geburtstag bei uns“, wunderte sich Heimgard Schüller. „Weißt du Mutti“,
sagte Anja, „ich hab’ jetzt mein Ziel. Da arbeite ich drauf hin.“
In ihrem blauen Abschiedsbrief stand: „Ihr habt es
zwar nicht gemerkt; aber ich habe mir die Zeit genommen, um mich von euch zu
verabschieden.“ Hätte er es merken können? Die Falten in Klaus Schüllers
gutmütigem Bulldoggengesicht schwimmen in Verzweiflung. Kann man so etwas
spüren? Hat er sie falsch eingeschätzt? „Sie war so ein kämpferisches
Mädchen“, sagt er. „Ich hab’ immer gedacht, sie ist stark.“ Er wusste , dass
sie Probleme hatte. „Anja, die können dir nicht alles wegnehmen“, hat er zu
ihr gesagt, „aber ich kannte den Freibetrag nicht.“ Er hat ihr geraten in
die Privatinsolvenz zu gehen. Die Gehaltspfändung wäre sechs Jahre gelaufen.
Rund 300 Euro hätten sie ihr wegnehmen können von den 1378 Euro Nettolohn,
den sie als Krankenschwester verdiente. Nach sechs Jahren wäre sie
schuldenfrei gewesen, nach ihrem 34. Geburtstag. Aber sie saß bei ihrer
Chefin in der Uni-Klinik und hat „bitterlich geweint. Weil sie sich so
geschämt hat“, erzählt Klaus Schüller. Er hat es erst danach erfahren. Zu
spät. Sie war tot.
Anja Schüller ist der vierte Selbstmord, den
Badenia-Kritiker der Bausparkasse vorwerfen. „Solche Leute rackern sich
lieber zu Tode, die holen sich lieber das Leben, als vom Kopf her zu sagen:
Jetzt gehen wir sechs Jahre in die Insolvenz, dann sind wir schuldenfrei“,
erklärt Medard Fuchsgruber, der Sprecher der Aktionsgemeinschaft
Badenia-Opfer. Absichtlich, sagt er, seien solche kleinen, anständigen
Menschen - Krankenschwestern, Straßenkehrer, Busfahrer ohne Eigenkapital als
Kunden ausgesucht worden. Dubiose Vermittlerfirmen sollen ihnen in den 90er
Jahren völlig überteuerte Schrottwohnungen angedreht haben. Im Preis
steckten Provisionen bis zu 30 Prozent für die Vermittler.
In über 8000 Fällen finanzierte den Kauf die
Badenia. Der Wohnungsverkauf durch die Immobilienfirma und der Kredit bei
der Badenia wurden üblicherweise im Paket angeboten. So auch bei Anja
Schüller. Sie hatte sich im Jahr 1999 eine 52 Quadratmeter große
Plattenbauwohnung in Chemnitz aufschwatzen lassen, renoviert, gelegen an der
stark befahrenen Annabergstraße, in schwierigem sozialen Milieu. „Es war die
erste große Sache, die sie selbst entschieden hat. Sie hatte das Gefühl, sie
hat was Gutes gemacht“, sagt Klaus Schüller.
Anja wohnte zu dem Zeitpunkt noch nicht lange in
Würzburg. Sie dachte an ihre Alterssicherung. Wie viele der anderen
Kleinverdiener hoffte sie Steuern zu sparen, als sie Ende 1999 das Darlehen
für den Wohnungskauf bei der Badenia aufnahm, indem sie zwei hintereinander
geschaltete Bausparverträge unterschrieb über 68000 und 69000 Mark. Es war
das übliche Finanzierungsmodell: sehr komplex, sehr schwer durchschaubar,
sehr tückisch, am Anfang mit sehr kleinen Raten für sehr kleine Leute - und
kaum einer Tilgung. Was dazu führte, dass der erste Bausparvertrag in der
Regel erst nach 14 oder 15 Jahren zuteilungsreif war, was wiederum bedingte,
dass man über die ganze Zeit bis zur Zuteilungsreife den Zins über den
vollen aufgenommenen Darlehensbetrag zu zahlen hatte. Bei Anja belief sich
das Darlehen auf fast 140000 Mark.
Nach der endlich erfolgten Zuteilung des ersten
Bausparvertrages hatte man immer noch den kompletten Zins für das restliche
Darlehen in Höhe des zweiten Bausparvertrages zu zahlen, dessen Ansparung
nach 14 oder 15 Jahren erst begann und etwa 12 bis 13 Jahre dauern würde.
Außerdem fielen jetzt die Zinsen an für das bei Zuteilung des ersten
Vertrages ausgereichte Bauspardarlehen über 60 Prozent der Vertragssumme.
Sie waren zu entrichten. Und tilgen musste man ja irgendwann auch noch bei
selten steigenden, häufig aber fallenden Mieteinnahmen. Die anfangs
niedrigen Monatsraten kletterten deshalb in schöner Regelmäßigkeit. Das
dicke Ende bei diesen Verträgen kam später. In der Regel, sagt Bernd Müller,
vereidigter Sachverständiger für private Baufinanzierung bei der Industrie
und Handelskammer des Saarlandes, seien diese „wahnsinnigen Bauspardarlehen“
erst nach 34 bis 36 Jahren getilgt.
Bei Anja Schüller wären es 34 Jahre und 10 Monate
gewesen. In dieser Zeit hätte sie, laut Bernd Müller, 33 Prozent mehr Geld
an die Badenia zahlen müssen, im Vergleich zu einem normalen
Annuitätendarlehen von gleicher Höhe und identischem Zinssatz, dessen
Finanzierung spätestens nach 23 oder 24 Jahren abgeschlossen sei. Die
Materie war reichlich kompliziert für eine 23jährige Krankenschwester. Drei
mal sprach der Vermittler Axel A., der sie telefonisch geworben hatte, bei
Anja Schüller vor: Hat er ihr den Sachverhalt korrekt erklärt? Kümmerte er
sich um Anja? Oder kümmerte er sich um seine Provision? Beim dritten Besuch
unterschrieb sie die ersten Verträge. Alternative Finanzierungsmöglichkeiten
seien nicht besprochen worden. Sie sei nicht darüber aufgeklärt worden, dass
es sich um eine sehr nachteilige Art der Finanzierung handelte, gab sie
später an.
Irgendwann muss sie gemerkt haben, welch tückischem
Geschäft sie aufgesessen war. Sie zahlte nicht mehr. Stattdessen engagierte
sie die Düsseldorfer Anwaltskanzlei Reiter & Collegen, die mehrere hundert
Badenia-Opfer vertritt. Die Kanzlei versuchte einen Vergleich für Anja
Schüller zu erwirken - vergeblich. Bis zu ihrem Tod, so schreibt sie, sei
Anja Schüller „von der Badenia kein akzeptables und verbindliches
Vergleichsangebot unterbreitet worden.“ Die Badenia habe sich bis zuletzt
geweigert, Kunden, die mehr als 100 Euro über der Pfändungsfreigrenze von
980 Euro verdienen, Erledigungsvergleiche zu unterbreiten. „Frau Schüller
hat diese Grenze geringfügig überschritten. Trotz laufender Verhandlungen
ist an den Anwälten vorbei, ohne unmittelbare Ankündigung und daher für Frau
Schüller völlig überraschend, kurz vor ihrem Tode die Zwangsvollstreckung
durchgeführt worden... Wie schon nach den früheren Selbstmordfällen stellt
sich die Badenia ihrer Verantwortung nicht.“ Soweit die Stellungnahme von
Anja Schüllers Anwaltskanzlei Reiter & Collegen.
Die Badenia weist dies zurück. Sie erhebt
ihrerseits Vorwürfe gegen Anja Schüllers Anwälte: Deren Behauptungen seien
unzutreffend, von der Mandantin eingereichte Unterlagen seien von der
Kanzlei nicht an die Badenia weitergeleitet worden, die Badenia habe in
Schreiben, die unbeantwortet geblieben seien, mehrfach ihre Bereitschaft zu
einem Vergleich mit Frau Schüller angeboten, zuletzt Anfang September zehn
Tage vor deren Selbstmord. – Zur selben Zeit allerdings ging auch der
Pfändungsbescheid der Badenia über 70000 Euro ein bei Anja Schüller, in der
Augustinerstraße in Würzburg. „Alle mir bekannten Fakten bestätigen, dass
die Badenia Verzögerungen und Versäumnisse zu verantworten hat, die zur
Verzweiflung von Anja Schüller geführt haben“, schreibt Gerhart Baum,
Rechtsanwalt und ehemaliger Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, an
Wolfgang Kaske, den Aufsichtsratsvorsitzenden des Finanzkonzerns AMB
Generali Holding, dessen Tochtergesellschaft die Badenia ist. Gerhart Baum
arbeitet mit der Düsseldorfer Kanzlei, die Anja Schüller vertrat, zusammen.
In einem Brief an die Eltern der jungen Frau schreibt er: „“Wir waren seit
Mai 2003 die Anwälte ihrer Tochter gegenüber der Badenia. Wir sind über
ihren Tod besonders bestürzt, weil er zeigt, wie zynisch und
menschenverachtend die Badenia mit Menschen umgeht, die von ihr bzw. ihren
Geschäftspartnern getäuscht und übervorteilt worden waren.“ Und weiter: „Die
Umstände des Todes ihrer Tochter bringen uns zu dem Schluss. Ihre Tochter
ist ein Badenia-Opfer. Mindestens drei weitere Selbstmorde hat der
Badenia-Skandal verursacht.“
Die Umstände ihres Todes waren so, dass der
Pfändungsbescheid gleich neben ihrem Abschiedsbrief lag. Sie wünschte sich
einen kleinen Grabstein. Bei ihrer Beerdigung sollten zwei Gedichte
vorgelesen werden, die sie geschrieben hatte. Eines heißt: „Ich wünsche mir
eine Hand – eine Hand, die mir aufhilft, wenn ich in die Tiefe gestürzt bin.
Eine Hand, die mich stützt, wenn ich über einen schweren Weg gehe. Eine
Hand, die mich streichelt, wenn ich alleine bin. Eine Hand, die mich
festhält. Festhält in meinem eigenen Leben.“ Kann sich jemand ausmalen, wie
es für ihn gewesen sein muss, als er dieses Gedicht am Grab seiner Tochter
vortrug? Auch Klaus Schüller ist finanziell nicht auf Rosen gebettet. Er hat
noch Verpflichtungen, er hat auch ein paar Sorgen. Anja wusste es.
„Vielleicht hat sie gedacht, der Papa kann nicht mehr.“ Vielleicht hat sie
deshalb nicht gewagt, nach seiner Hand zu greifen. Vielleicht... Rinnsale
der Verzweiflung bahnen sich ihren Weg über sein Gesicht. Er wird es nie
erfahren. „Sie war ein sehr stolzes Mädchen“, sagt er.